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Chamonix: Midi-Plan Grat

Wer zum ersten Mal nach Chamonix kommt, wird überrascht sein. Nicht nur die umgebende Bergwelt könnte nicht schöner und formgebender sein (mit Superlativen wird in der heutigen Zeit ziemlich schnell um sich geschmissen, ich weiss, aber in diesem Fall sind sie sicherlich angebracht, und nicht nur, weil da der Höchste der Alpen steht!), es ist auch deutlich voller. In der Hauptsaison wimmelt und wuselt es in der Einkaufsmeile von Chamonix, Menschen aus allen Herren Länder. Das sind wir auch von Zermatt gewöhnt, stimmt, aber hier kommen sie alle zusammen, die Bergsportler der ganzen Welt. Alpinisten, Möchtegernbergsteiger, Kletterer, Trailrunner, Basejumper, Mountainbiker, Wanderer, Freerider, jeder ist drahtig und durchtrainiert, durchgestyled und modebewusst kommen sie daher, Chamonix der Laufsteg der Outdoorindustrie.

 

So viel Andrang im Tal überträgt sich leider auch auf den Berg. Schlangestehen, Nummerziehen, der frühe Vogel fängt den Wurm. Da verwunderte es uns umso mehr, dass wir als einzige Seilschaft des Tages zum Klassiker Midi-Plan Grat abzweigten. Und dass, obwohl wir "erst" mit der zweiten Gondel hinauf durften (trotz 15min. früher vor Ort sein). Aussteigen aus der Gondel und schon startet das Abenteuer. Von 0 auf 100. Dabei stehen unsere Augen noch auf Halbmast.

 

Doch der Abstieg von der Aiguille du Midi verzeiht keine Fehler, Seilfrei bewegen wir uns trotzdem leichtfüssig an den Seilschaften vorbei und beim Abzweiger sind wir dann urplötzlich nur noch unter uns. Die Morgenstimmung ist gewaltig, wir überblicken den kompletten Anstieg bis zur Aiguille du Plan. Eine Himmelsleiter nach der anderen, links pfeifft es gehörig steil mit saugendem Tiefblick nach Chamonix hinab. Doch die Eisen beissen perfekt, der Firn ist schön griffig durchgefroren. So bewegen wir uns konstant und ohne Halt, mal auf der schattigen Chamonixseite ein Felsaufschwung umgehend, mal auf der rechten Sonnenseite. 

 

Das Couloir ist teils ausgeapert, teils etwas mixed am Start, Wegspuren weisen den Weg durch die brüchig-schottrige, breite Rinne. Von der Schneekuppe oberhalb geht es zu den Felsen weiter, welche wir mit 2x abseilen (60m Einfachseil) zügig hinter uns lassen. Hier treffen wir erstmal auf eine Seilschaft, die von der Cosmiquehütte gestartet ist, Ihr Seil verhängt sich beim Abziehen, wie gut dass wir zu ihnen stossen und ihr Seil beim Abseilen befreien können. Mehr oder weniger gemeinsam stapfen wir den letzten Aufschwung im Schnee hinauf zum Felsaufbau der Aiguille du Plan. 

 

Wir sind zu faul die Steigeisen abzumontieren und so kratze ich auf einer Linie, die mir lieb ist, hinauf zum kleinen Gipfel. Zum Schluss mit 3 Bouldern, einem überhängenden Kamin und 2 verschiedenen Mantlern, den Normalweg umgehend, bis ich direkt auf der flachen Gipfelplatte bei der anderen Seilschaft nach 3 3/4h aussteige und Harald nachsichere. Warum einfach, wenn es auch schwieriger geht?;-)

 

Wir haben noch viel Zeit übrig und den gleichen Weg zurück? Nö, kennen wir ja schon. Warum also nicht ins Ungewisse starten. Eine gute Spur verleitet uns zum Abstieg über die Requin-Hütte und das Mer de Glace nach Montenvers. Die Seilschaft am Gipfel warnte uns noch, dass der Weg weit sein würde...ja, ja, wir sind ja Trailläufer.

 

Wie gut, dass wir uns den Abstieg vorher nicht angeschaut hatten, er war tatsächlich weit. Und nicht nur das, der zerrissene Gletscher hinunter zur Hütte war überaus abenteuerlich zu dieser Jahreszeit. Ein steiles Spaltengewirr mit schmalen Eisgrätchen, Absprüngen und dünnen Schneebrücken. Brutal, Wie gut, dass wir Beide eine gute Sicherheit im Eis aufweisen und uns aufeinander verlassen können. Denn beides war hier irgendwie gefährlich: unangeseilt = keine Mitreissgefahr, dafür Spaltensturzgefahr, angeseilt= Mitreissgefahr, aber Spaltensturzgefahr vermindert. Wir blieben bei der Seilvariante und fanden zum Glück alle Durchschlüpfe. Kurz oberhalb der Hütte zeigte uns die Natur noch einmal, wer hier Herr ist. Ein VW-Bus grosser Stein polterte in Zeitlupe unweit von uns vorbei. 

 

Das darauffolgende Schneefeld rutschten wir somit im Eiltempo hinab, überall grosse Brocken, ein Minenfeld. Bei der Hütte dachten wir, dass wir nun das ärgste hinter uns hätten. Doch dem war nicht so, ohne Kenntnis, wo das Mer de Glace am besten zu passieren ist, lag ein einzigstes Spaltenlabyrinth zu unseren Füssen. Wir versuchten es mal ganz links, dann mal mittig, schliesslich rechts. Gerade als die Verzweiflung mal wieder zu explodieren schien, da, dort, eine Brücke, die uns zumindest ein Stück weiter befördern würde. Wow. Solch ein Labyrinth haben wir Beide noch nie durchschritten. Immerhin sahen wir am Ende mehrere Seilschaften auf der Eiszunge, das, heisst, ein Durchkommen musste möglich sein!

 

Oftmals wussten wir nicht, was gerade überwiegt, die Furcht, sich komplett im Spaltensystem zu verheddern und zu verirren oder die Sorge um die Aufziehenden Gewitterwolken oder einfach nur das Überwältigtsein von der atemberaubend grandiosen Naturschönheit des Mer de Glace. Meistens überwiegte letzteres und so liess das Adrenalin auch meine schmerzenden Füsse vom langen Steigeisenabstieg etwas in Vergessenheit geraten. 

 

Mit noch einer Stunde hin bis zur letzten Bahn erreichten wir schliesslich Montenvers. Müde, erschöpft, aber bereichert mit einmaligen Erlebnissen und Eindrücken. Bergsteigen ist schon toll, wenn ich es auch nicht täglich haben muss!!!

 

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschafterin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

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Autorin Trailrunning Guidebook

 

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