· 

Skyrun: Gran Paradiso via normale da Pont (FKT)

Wer mich kennt, weiss, dass ich normalerweise ja eher zurückhaltend bin mit dem "Verkauf meiner Leistungen". Doch diesmal wollte ich es genau wissen. Die Rekordzeit am Grand Paradiso für den reinen Uphill von Pont über die Normalroute betrug bisher 2:40:14h, aufgestellt von der Brasilianerin Fernanda Marciel im Jahr 2020. Es findet sich dazu ein Video auf YouTube.

 

Bereits Mitte Juni waren wir auf der Strecke zur Besichtigung unterwegs, damals fanden wir perfekte Verhältnisse vor. Das heisst, eine tragende, griffige Schneedecke auf dem Gletscher und sogar noch bis weit über das Gletschervorfeld hinunter. Die warmen Temperaturen dieses Jahr in Kombination mit dem schneearmen Winter bescherten also einen frühen Start der Skyrunning-Saison. Wir wussten, dass wir bald wieder kommen mussten, wenn wir weiterhin von den idealen Verhältnissen für einen Speedversuch profitieren wollten. Doch wie so oft im Leben, läuft nicht immer alles nach Plan. Wir fanden erst jetzt, Anfang Juli wieder Zeit, die Reise ins Valsavarenche auf uns zu nehmen. Immerhin war strahlend blaues, windarmes Wetter prognostiziert. Doch der Schnee war komplett verschwunden. Die Gletscherzunge blank, im Gletschervorfeld lag Schutt anstatt Schnee. 

 

Mit der Ausrede im Kopf, mich auf die Verhältnisse rausreden zu können, nahm ich mir den Druck und startete so völlig unbefangen und mit einer gehörigen Portion Motivation und Lust mich in ein neues Kapitel im Skyrunningsport zu stürzen. Neues Kapitel im Sinne von FKT (fastest known time). Laut STRAVA war ich zwar auch auf meinen ganzen vorangegangen Skyruns der letzten Jahre (wie Weissmies, Lagginhorn, Nadelhorn, ...) die schnellste Frau am Berg, doch was heisst das schon? Nicht jeder verwendet STRAVA, nicht immer zeichnen die GPX-Uhren akkurat auf. Ich denke, dass es sicherlich stille Sportler gibt, die ohne social media und viel Tamtam Rekorde erzielen. Es erfährt dann leider niemand davon oder nur ein kleiner, eingeweihter Kreis. Auf der anderen Seite, wenn man sich in der Community bewegt, dann sollte man doch irgendwie, zumindest über drei Ecken, Wind von solchen Neuigkeiten bekommen?

 

Wie auch immer, der 02.07.2022 war jedenfalls gekommen um zu zeigen,  was ich auf dieser Route (von der Brücke in Pont über das Rif. Vittorio Emanuele II und den Normalweg zur Madonna hoch) aus mir herausholen könne und ob die 2 Stunden 40 zu unterbieten seien.

 

Mit Hari und Nicu zeitlich leicht versetzt am Start, damit wir, wenn bei jedem alles gut läuft, gleichzeitig oben am Gipfel feiern dürfen, schafften wir eine harmonische Atmosphäre, die zwar Wettkampfzüge annahm, aber ungezwungen ohne Druck uns auf die Route schickte. Um 8Uhr31 fällt mein imaginärer Startschuss, Nicu ist bereits seit einigen Minuten unterwegs, Hari wünscht mir noch viel Erfolg und gutes Gelingen bei der Brücke, ehe er zum Aufwärmen übergeht. Der erste Kilometer geht flach am Bach entlang, ich habe das Gefühl, ich komme überhaupt nicht vorwärts und sehne daher bereits den Abzweiger nach dem Rif. Tetras Lyre herbei, wo ich endlich uphill Meter machen darf. Speedhiken liegt mir dann doch mehr als gerade aus zu rennen :-)

 

Nach 52 Minuten erreiche ich die Hütte, die Beine fühlen sich bereits ziemlich platt an. Durch die vielen Abkürzungen erinnerte dieser erste Abschnitt mehr an ein steiles Vertikal, denn an einen klassischen Hüttenlauf auf gutem Weg. Kurz etwas Wasser aus dem Brunnen tanken, durchschnaufen, auf die nächste Etappe mental vorbereiten. Ich bin ziemlich gespannt auf die Verhältnisse, die ich antreffen werde. Und war dann umso erstaunter, als ich feststellen musste, dass überhaupt kein Schnee zur kraftsparenden Fortbewegung mehr übrig war. Ich navigierte durch das Blockwerk, all den Schutt, sprang über kleine Bäche und fokussierte auf die Steinmänner, die mir den Weg durch das Tal weisen sollten. (Anmerkung: im Abstieg sahen wir dann, dass, wenn das Tälchen schneefrei ist, man wohl eher im Aufstiegssinne links über die Gletscherschliffplatten geht).

 

Es ist noch spannend zu beobachten, wie intuitiv und automatisiert jede Bewegung abläuft. Ich denke nicht aktiv, wo der beste Weg wohl gehen würde. Ich mache einfach. Konstant. Ohne Pause. Kleine Fehler werden direkt behoben. Bis ich zum Gletscheranfang gelange und zu den Grivel Stahl Micro-Crampons greife. Das blanke Eis ist zwar griffig, aber ziemlich steil (schätzungsweise 35°), ich muss mit den Stöcken zusätzlich ziemlich drücken und unterstützen. 4 Wheels sozusagen. Viele Bergsteiger kommen mir bereits entgegen, das gibt mir Zuversicht, dass der obere Teil nicht von einer everestartigen Schlange von Bergsteigern blockiert ist.

 

Im ganzen Mittelteil fehlt Schnee. Abermals muss ich über Schutt und bewegliche Felsblöcke. Die Schneeketten lass ich trotzdem an den Füssen. Sie abzuziehen und wieder zu montieren, würde zu viel Zeit kosten. Ich fange langsam an zu rechnen, ob meine Zielzeit von 2 Stunden und 30 Minuten noch realistisch ist. Aber ich bin auf Kurs, wenn ich weiterhin pushe sollte mein Traum in Erfüllung gehen. Im oberen Gletscherabschnitt treffe ich auf grosse Bergsteigergruppen, die verdutzt mein Tun beobachten. Einige Genossen feuern mich an, "bravi" höre ich. Das motiviert, ich pushe so gut wie möglich, die Atmung ist mittlerweile am Anschlag, ich bin im roten Bereich angelangt. Vom letzten Mal wusste ich, dass sich der obere Teil gefühlt ewig zieht, letztendlich aber nicht mehr als 20 Minuten beansprucht. 

 

Beflügelt von den Emotionen (oder ist es die Sauerstoffarmut im Hirn?;-)) presse ich das Tempo durch. Am Felsgrat angelangt, schmeisse ich die Stöcke einfach hin und krabbel auf allen Vieren zur Madonna hinauf. Eine Seilschaft überhole ich noch, dann schlage ich nach 2:28:37 Stunden an der Madonna an. Es windet, 4 weitere Bergsteiger befinden sich an diesem Punkt und fotografieren. Obligatorisches Gipfelbild. Ich bin platt, extrem platt, schmeisse mich auf eine Felsplatte auf der Lee-Seite und atme. Ich atme ewig, schliesse die Augen, atme noch immer. Als ich mich aufsetze, krampfen die Beine, die Hüfte. Krass, das hatte ich noch nie!

 

Irgendwann finde ich wieder zu mir und realisiere erst so richtig, wo ich gerade bin und was ich gemacht habe. Da erblicke ich Hari im letzten Gletscherabschnitt. Wenig später feuer ich ihn auf den letzten Metern an, mache ein paar Fotos. Bevor auch Nicu auf die Zielgerade einbiegt und erleichtert die Madonna umarmt. Grande emozioni!!! Die Anspannung fällt von uns Dreien ab, von Glückseligkeit geflutet und einer gehörigen Portion Endorphin begleitet, geniessen wir das Gipfelpanorama und berichten uns gegenseitig überschwänglich von unseren ganz persönlichen Erlebnissen und Eindrücken.

 

Die FKT bergauf ist im Kasten. Der Abstieg nur noch Formsache. 

 

Zurück beim Rif. Vittorio Emanuele II wuselt es von Bergsteigern. Wir stürmen die Bar. Nachdem es nur kleine Aludosen gibt, entscheide ich mich zusätzlich für ein grosses Bier. Durstlöscher. Nicu sorgt sich noch ob der Grösse der Bottle: 66cl ! "Ob ich danach noch ins Tal rennen kann?" "Klaro". Na dann, Prost! Das muss gefeiert werden!

 

 

Fakten

 

  • Zeit: 2:28:37
  • Route: von Pont über das Rif. Vittorio Emanuele II und den Normalweg auf den Gran Paradiso (Madonna)
  • ohne Support
  • Start um 8:31Uhr am 02.07.2022

Material:

  • Inov-8 x-Talon 212
  • Grivel Micro-Crampons
  • Stöcke

in der Salomon Trailweste (12l):

  • 0,5l Iso-Softflask
  • 1 Gel, 2 Obstriegel
  • Windjacke
  • Handy

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Bruno (Montag, 04 Juli 2022 14:41)

    Mega cool Patricia, und toller Bericht. Gratuliere dir zur Leistung und zum FKT!

  • #2

    Ruedi (Montag, 04 Juli 2022 16:03)

    Gratulazione! Tutto gas!!

  • #3

    Moran Ludwig (Montag, 04 Juli 2022 18:13)

    Genial!!! �

Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschafterin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

Online-Autorin SAC Tourenportal

Autorin Trailrunning Guidebook

 

Hondrichstrasse 17c

3703 Aeschi b. Spiez

Schweiz

 

info@patricia-neuhauser.ch

www.patricia-neuhauser.ch

+41 79 159 86 95

trail-maniacs.ch

Trailrunning Verein 

 

info@trail-maniacs.ch

 

#trailmaniacsch

#werockthetrails