Die Ecke des Oberaletschgebiets ist unter Kletterern und Bergsteigern weniger im Fokus, der Zustieg zur Hütte ist lang. Somit darf man hier in Ruhe das atemberaubende Panorama geniessen. Eyecatcher Nummer 1 das Nesthorn mit seinen ausufernden Graten, Eyecatcher Nummer 2 das Aletschhorn und dazwischen der ewiglange Eisstrom, der leider zunehmends an Masse einbüsst und enorme Blockmassen zu Tale befördert. Die Touren im Aletschgebiet werden dadurch nicht einfacher...unbeeinflusst bleibt allerdings das grosse Fusshorn, über dessen vollständigen SW-Grat man direkt von der Oberaletschhütte weg aufbricht und wunderschöne Klettermeter in griffig, festem Fels erleben darf.
Dass ich diesen langen Grat einmal solo angehen würde, stand eigentlich nicht auf meinem Radar. Doch der Zufall wollte es, dass sich für mich die Option dazu ergab: Hari plante einen Speedversuch auf das Aletschhorn mit voriger Übernachtung in Blatten um früh genug am spaltigen Gletscher sein zu können. Ich würde mit ihm das Doppelzimmer teilen können, am Vorabend Pizza essen, ihn beim Start nochmals viel Glück wünschen und ihn nach vollbrachter Tat auf der Oberaletschhütte in Empfang nehmen können um den langen Rückweg gemeinsam anzutreten. Das tönte vielversprechend, ich musste nur noch ein spannendes Tourenziel für mich finden. So rückte das Fusshorn auf meinen Bildschirm...
Abgeschreckt von der Cruxpassage, welche mit einem guten und kräftigen Fünfer angegeben ist, zog ich auch den "Normalweg" über die SW-Flanke in Erwägung, welcher als Abstieg benutzt wird. Doch verlockend sah der vollständige SW-Grat eben schon aus: lang, fester Fels, mit einigen Aufschwüngen gewürzt und auf der Karte eine tolle Linie direkt ab Hütte ergebend. Ich versuchte möglichst viele Informationen und Bilder vorab zu bekommen, um Pläne A, B und C zu schmieden und einen realistischen Eindruck von der Tour zu erhalten, um eine Entscheidung treffen zu können, ob ich dieser im Alleingang gewachsen bin. Die Analyse ergab ein "go", also fuhren wir gemeinsam am Vorabend nach Blatten um im Blattnerhof zu nächtigen.
4Uhr Tagwache, Birchermüsli und Banane reinstopfen, einen Eiskaffee dazu. Die Pizza vom Vorabend liegt noch im Magen, immerhin dürfte der Energiehaushalt für heute stimmen. Im Schein unserer Stirnlampen verlassen wir das noch verschlafene Blatten, nur die Helikopter zirkulieren noch immer, welche den Waldbrand nebenan im Bezirk Bitsch seit 2 Tagen unter Kontrolle versuchen zu bekommen. Es schmeckt leicht nach Brand und als ich aus dem Dunkeln ins Morgengrauen beim Hotel Belalp komme, liegt Rauch im Tal. Es ist kalt, es ist windig, doch der Tag verspricht wolkenlos und stabil zu werden. Bereits auf dem Panoramaweg zur Oberaletschhütte ziehe ich mir mein langes Shirt über und lege Handschuhe an, ich bin noch immer im Schatten während ringsum die Gipfel von der Sonne beschienen werden. Mich treffen die ersten, erlösenden Sonnenstrahlen erst auf dem mit unzähligen blauen Punkten und Pfeilen markierten Anstieg zu P.2953 hinter der Hütte. Hier ist jemandem wohl der Farbpinsel durchgegangen...Schliesslich lege ich doch noch die Gore-Jack an, der Wind pfeift unerbittlich und meine Fortbewegungsgeschwindigkeit nimmt nach und nach ab. Nicht nur habe ich bereits einige Höhenmeter in den Beinen, auch die Schwierigkeiten nehmen zu. Anfangs ist es typisches blau-weisses bis T5 Gelände und ein einfacher Blockgrat, nach und nach kommen ausgesetztere Passagen hinzu bis es schliesslich in anregende Kraxelei übergeht. An der Gratkante ist der Fels durchwegs fest und grossgriffig, dafür oftmals wirklich exponiert. Erste Bohrhaken verraten, ich bin mittendrin in der Gratkletterei. Auf der Westseite Schatten und Eiseskälte, auf der Ostseite des Grats milde Temperaturen und Windlee. Man wechselt hin und her, mal etwas links der Kante, mal etwas rechts, dann wieder oben drüber. Mein Ziel ist es möglichst effizient an der Kante zu bleiben, was aber auch mal heisst 2m unterhalb untendurch im Bruch zu gehen um bei erstbester Gelegenheit mit zwei kräftigen Moves wieder die Gratkante zu erreichen.
Der Fels ist unheimlich rauh und die kalten Hände leiden. Doch ich bin in meinem Element, fokussiert, konzentriert, dabei locker und flüssig unterwegs. Überall wo nötig, halte ich inne und prüfe intuitiv meine Optionen des Weiterwegs, Ich bin mir in jeder Sekunde des Klettern bewusst, dass ich diese Passagen im Notfall auch wieder zurückklettern kann. Dies gibt mir die nötige Gelassenheit und Zuversicht ins Unbekannte zu klettern. Am grossen Aufschwung erspähe ich zwei Seilschaften, sie bewegen sich am laufenden Seil vorwärts. Auch dies verleiht mir Zuversicht, dass sich der aufsteilende Grat als gutmütig erweisen wird. Schliesslich hole ich die erste der beiden Männerseilschaften ein, vor der eigentlichen Crux dann die vordere Seilschaft. "Gerade zum richtigen Zeitpunkt", denke ich mir, da ich so beobachten kann, wie die Sequenz zu klettern ist, wo es die nötigen Griffe und Tritte hat. Die A0 Schlinge befindet sich jedenfalls nicht mehr im Bohrhaken, man muss ziemlich kraftvoll an einem henkligen Griff anziehen und irgendwie die Füsse über die Bauchkante bekommen. Ich behelfe mir mit Ausspreizen, wobei dies fast schon einem Spagat gleicht. Trotzdem kommt der Moment, wo es heisst: Bizeps anspannen und drüberwuchten. Elegant ist etwas anderes...nach diesen 2m geht es wieder entspannter zur Sache und ich bin nun die Erste am Grat, die nach dem Weg sucht. Ein letzter Aufschwung, der zuoberst exponiert erklommen wird, lässt sich auf der Rückseite leicht abklettern. Das nenne ich mal elegant, elegant von der Natur eingefädelt.
Am Gipfelkreuz wähle ich die windstille Lee-Seite und lasse das Ambiente auf mich wirken. Ein wunderbarer Aussichtsberg, so mittendrin im Aletschgebiet. Nebenan das Aletschhorn. Wo sich Hari mittlerweile befindet? Hat er den Gipfel erreicht? Wie waren die Verhältnisse? Ich werde es erst später auf der Hütte erfahren, wo ich ihn gegen 13:30Uhr in Empfang nehmen werde...
Ich warte noch auf die Seilschaft aus der Cruxpassage am Gipfel, um ein paar Worte wechseln zu können. Nach 6h allein unterwegs habe ich das Bedürfnis mich auszutauschen. Als mich einer der beiden Typen fragt, welches denn nun meine Hauptprofession sei, antworte ich keck: "Hausfrau". Verdutztes Staunen...wir lachen. Ja ich weiss, es ist nicht so häufig, dass man von einer Solo-Frau auf einem Felsgrat überholt wird. Und ja, ich verstehe die Frage. Aber die Antwort ist eben so simpel wie unglaublich.
Für den Abstieg wähle ich den "Normalweg", welcher vom Gipfel hinab einer Rippe mit gutem Fels in der ansonsten brüchig-schuttigen Flanke entlang roter Punkte führt. Meistens bewegt man sich im II-Grad und die Passagen sind durchaus steil. Die v-förmige Einschartung im Fels darf man keinesfalls verpassen, hier gelangt man nach rechts (im Abstiegssinn, also nach Westen) auf die andere Seite der Rippe und Richtung grossem Couloir. Ich begegne einem Abseilstand, von dem ich Gebrauch machen würde, hätte ich ein Seil. So aber klettere ich ab, der Fels ist hier nicht ganz zuverlässlich. Dafür lasse ich mir Zeit und überprüfe jeden Griff und Tritt, Fehlermarge habe ich nicht, es muss alles zu Prozent passen. Anstatt dem steinschlägigen Couloir zu folgen, bleibe ich auf der linke Begrenzungsrippe, die zwar steil, aber mit gutem Fels bis auf den Firn hinabführt. Der Übergang wie immer etwas geschissen, auch hier gäbe es einen einzelnen Bolt mit Maillon zum abseilen.
Handschuhe an, Stöcke ausgepackt, im Schneckentempo taste ich mich den steilen (45Grad), wenn auch schon oberflächlich minimal weichen Schnee hinab. Ein Abgleiten wäre nicht angebracht, man würde 50m unterhalb schmerzhaft in die Blockwüste detonieren. Ich schlage mit den Schuhkanten Tritte und nutze jeden Stein, der in den Firn eingeschmolzen ist. Auch dies kostet Zeit. Mit Microcrampons und einem Pickel wäre es schneller und sicherer gegangen. Danach heisst es aufatmen, das Blockfeld zum nächsten Firn ist schnell gequert und ich kann einfach abrutschen. Danach folgt ein langes Surfen auf kleinschottrigem Untergrund, es hat sich eine richtige Schotterreisse gebildet, so dass man Fahrt aufnehmen kann für den Schnellabstieg. Wer die Augen aufhält, wird fast durchgängig die Wegspuren der Vorgänger sehen und auch den letzten Abschnitt entlang eines Pfades, zwar steil, dafür einigermassen angenehm, bis zum Wanderweg zurücklegen können.
In 15Minuten ist man wieder bei der Hütte und kann die heissen Füsse in der Hüttenbadewanne abkühlen. Das Verleihen der Quietscheendchen erfolgt auf Nachfrage ;-) . Überhaupt ist ein Hüttenstopp und damit die 30 Minuten Umweg mehr als gut investiert. Bei einer geschmackig, kräftigen Suppe oder einem herzhaften Rösti im Liegestuhl kehren die Kräfte schnell zurück und die braucht es allemal für den elends langen, wenn auch fantastisch schönen Rückweg zur Belalp. Wir sind nicht unfroh, dass ab dem Hotel Belalp gerade das Taxi zur Bahnstation abfährt. Auch diese 7CHF/Person sind nach dem 12-stündigen Tag mehr als gut investiert...
Tourdaten:
grosses Fusshorn 3627m, vollständiger SW-Grat (5b, Einzelstelle. Meistens II-III)
25Km, 3300Hm (extrem viele Gegenanstiege!!!): Blatten - Oberaletschhütte - Grosses Fusshorn - Oberaletschhütte - Hotel Belalp
Start: 4:35h in Blatten Talstation Luftseilbahn
Persönliche Zeiten:
Blatten - Oberaletschhütte - vollständiger SW-Grat Grosses Fusshorn bis Gipfel: 6h
Abstieg Grosses Fusshorn - Oberaletschhütte: 1 3/4h
Rückweg Oberaletschhütte - Hotel Belalp (Wanderung): 2,5h
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