Prolog
Nein, ich bin nicht lebensmüde. Ohne Seil zu klettern verschafft mir eine tiefe Genugtuung und Befriedigung, die ich sonst nicht spüre. Sich frei zu bewegen, im eigenen Rhythmus, ultra fokussiert und gleichzeitig völlig im Flow. Es ist für mich die purste und intensivste Form eines Bergerlebnisses. Diesen Moment, diese Stunden mit einem Menschen auf selber Wellenlänge teilen zu können, ist unbeschreiblich.
Wenn die Idee gedeiht, die Vorbereitungen laufen,...irgendwann kommt der Moment, wo das Träumen zur Wirklichkeit wird. Diese Tage sind gezählt, ihre Rarheit macht sie so wertvoll.
Die Story
Den Südgrat auf das Stockhorn hatte ich bereits 1 Jahr zuvor gemacht und in bester Erinnerung. Vor allem seine exzellente Felsqualität auf dieser Länge beflügelte meine Freesolo Gedanken. Ich verwarf sie allerdings recht schnell, da sich, allein schon von der Logistik her, das Projekt als zu umfangreich entpuppte. Erst mit meinem Freund Matic in Kombination entflammte die Idee erneut. Wir sind schon einige leichte Touren miteinander seilfrei geklettert, er liebt es ähnlich wie ich, wir vertrauen uns blind, uns verbindet dieselbe Leidenschaft einfach der Spürnase hinterherzusteigen. Als ich ihm von meiner Idee erzählte, war er Feuer und Flamme. Doch es vergingen abermals ein paar Wochen, bis der Tag reif war für dieses neuartige Projekt: als Tagestour von Spiez, ohne Biwak, mit Leichtausrüstung. Wir wollen nur die 3 schwierigen Längen nach dem obligatorischen langen Abseiler von Turm 4 gesichert klettern. Der komplette Rest gleichzeitig und seilfrei in unserem gemeinsamen Flow. In Summe sind das dann 26km und 2400Hm von/bis Ausserberg mit 500Hm Klettern (seilfrei bis 4c, mit Seil bis 5c) über die 5 Türme des Südgrats.
Unser Gepäck beschränkt sich auf 2x30m Seil, Leichtgurt, 4 Express, Reverso, Schraubkarabiner, Bandschlinge und Prusik. Und natürlich Kletterschuhe, 1l Getränk und Verpflegung, Erste Hilfe, Handy, Wechselshirt, Jacke und Stöcke. In Ausserberg genehmigen wir uns noch 1 Schlüssel für die Schatztruhe des Stockhornbiwaks abzuholen, um mit Apfelschorle dort oben unseren Flüssigkeitshaushalt auftanken zu können. Wir starten mit dem ersten Zug ab Spiez nach Ausserberg und joggen/speedhiken die Fahrstrasse, das Tunnel und den zunächst recht flachen Trail hinein ins Baltschiedertal, das uns reichlich Schatten spendet. Zäher Nebel bedeckt das Tal. Um so schöner, als wir endlich kurz vor dem Biwak aus dem Nebel kommen und uns strahlend blauer Himmel und wärmende Sonnenstrahlen empfangen. Wir legen eine lange Pause am Biwak ein, füllen die Energiespeicher auf und geniessen schlichtweg die wunderbare Atmosphäre über dem Nebel. Unser Tag beginnt erst jetzt so richtig. Bisher war mehr Fleiss als Preis...
Die Szenerie hier oben ist beeindruckend und schon von der Ferne lässt sich erahnen, wie bombenfest der Fels ist. Zunächst steigen wir noch mit unseren normalen Trailrunningschuhen höher, bis wir einen ebenen Platz als unseren offiziellen Einstieg in die Tour deklarieren, wo wir Klettergurt und Kletterschuhe anziehen. Handwarmer, orangefarbener Fels schmiegt sich an die Handflächen, die Reibung stimmt ebenfalls und wir turnen vergnügt empor. Einige Bolts weisen den Weg und prinzipiell lässt es sich an so einem Grat eh nicht verlaufen;-). Auf dem ersten oder zweiten Turm müssen wir einen kurzen Stopp einlegen, unseren Füssen zu liebe. Obwohl wir Kletterschuhe verwenden, die 2 Nummern zu gross sind, zeigen sich unsere Füsse wenig begeistert ob ihrer eingeengten Situation. Sie schreien nach Luft, welche wir ihnen gewähren. Es folgt Turm auf Turm und beim 4. Turm seilen wir schliesslich planmässig in die Scharte ab. Hier beginnt nun die anspruchsvollere Kletterei und es stellt sich kaum die Frage, ob wir es seilfrei wagen sollten. Die Wand ist steil, glatt, mit unseren 4 Express und den 30m Seil eh schon relativ spannend, wir müssen einiges simultan klettern. Zum Schluss wird es recht steil und kraftig, doch die Griffe dafür grösser. Jetzt, wo wir die 3 Seillängen kennen, rückt die Freikletterei schon eher ins Auge. Und doch, der plattige 5b zu Anfang und die steile 5c zum Schluss haben es durchaus in sich und erfordern mental eine ganz andere Stärke, wenn sie ohne Seil geklettert werden, als wie wenn man zumindest in einen Strick eingebunden ist und der Totalabsturz verhindert wird.
Nach +/- 7,5h, seit wir in Ausserberg mit dem Zug angekommen sind, betreten wir den Gipfel im schönsten Nachmittagslicht. Es ist friedlich, windstill und die Layer am Horizont verblauen und verblassen. Die Majestät, das formschöne Bietschhorn, türmt sich nun mit unverbautem Blick vor unseren Füssen auf. Es ist halb Drei, wir sind mutterseelenallein in dieser gigantischen Bergwelt. Ein langer Abstieg steht uns bevor, doch dieser Moment will genossen werden. Kein Grund zur Eile und Hast. Hierfür sind wir gekommen! Wir haben es geschafft! Der Plan ist aufgegangen, wir sind ein perfektes Team. Es braucht nicht vieler Worte, dass wir uns verstehen. Ein Blick, eine Geste genügen.
Irgendwann sind wir dann wieder in diesem Tunnel, der als Direttissima aus dem Baltschiedertal hinausführt. Ich sehe einen winzig hellen Punkt am Horizont. Der Rest ist schwarz. Doch dieser Punkt will nicht näher kommen. Also beschliessen wir zu joggen, im Dunkeln, mit dem Rauschen der Suonenleitung neben an. Schritt für Schritt vergrössert sich der helle Punkt, nach einer gefühlten Ewigkeit spuckt uns die Darkside aus. Es ist schwül draussen und es folgt ein zäher Abstieg auf der Strasse bis zum Bahnhof in Ausserberg. Wir reden nichts mehr, wir sind müde, die persönlichen Wehwehchen bestimmen die letzte halbe Stunde. Jeder ist mit sich beschäftigt. Doch wir bringen das Ding zu Ende. Nach gut 11h seit unserem Aufbruch erreichen wir erneut Ausserberg.
Die Eindrücke, die Emotionen, das Erlebnis. All das muss zuerst verarbeitet werden. Jetzt freue ich mich nur auf etwas zu Essen, eine Dusche und mein Bett! Grundbedürfnisse befriedigen, alles andere kommt erst danach...ok, und Fotos tauschen auf der Bus- und Zugfahrt nach Spiez zurück.
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