Über den Schärfegrad lässt sich streiten. Geschmackssache oder doch eine Frage der Gewöhnung? Dass scharf auch schnell in zu scharf switchen kann, kennen wir von feurig-würzigen Speisen aus Fernost. Ich liebe Thai-Curry, doch wenn es mehr als prickelt am Gaumen, schwindet meine Liebe zu diesem feinen Gericht. Ähnlich erging es uns am Rothorn, welches mit Prachtsfels aufwartet. In der Theorie ist der Fels auch von bester Güte, doch frag mich mal nach der zweiten, vierten und sechsten Seillänge! Meine anfängliche Euphorie für die Rauigkeit des Gesteins wich zunehmend einem Gejammer und schliesslich einer anhaltenden Qual. Dabei machen wir das zu unserer Belustigung, könnte man meinen, Freizeitbeschäftigung nennt sich dieser Klettersport auch...
Jedenfalls plädiere ich seit dieser Route für eine Schärfe-Skala. Von 1 bis 5 Chillischoten. Die Bons Baisers de Sibérie verdient die volle Anzahl!
Aber ich will ja nicht meckern, das hätte diese Perle aus dem Hause Anker/Piola aus dem Jahre 1990 nicht verdient. Indes gehört sie sicherlich zu einer der schönsten Routen der ganzen Schweiz! Obwohl sie "nur" 6 Seillängen hat, müssen trotzdem 230m überwunden werden. Michael und ich waren jedenfalls den ganzen Tag beschäftigt und am Ende so richtig fertig. Körperlich, mental, von der Haut an den Fingern ganz zu schweigen. Die Route fordert deutlich mehr, als das Topo erahnen lassen würde. Mit 7a+/6c obligatorisch, wie das Topo aus dem Filidor Extrem West (2010) die Schwierigkeiten beziffert, kommt man nur am Rande seiner Kräfte durch. Für jede Seillänge darf man nach meinem Geschmack den Schwierigkeitsgrad gut und gerne um ein dickes Plus anheben, auch den obligatorisch zu kletternden Schwierigkeitsgrad. Wer Spass und eine solide Chance auf einen onsight/rotpunkt-Durchstieg haben möchte, sollte 7a auch zwischen den Bolts locker drauf haben. Denn diese sind nicht besonders üppig gesetzt. Bei der Steilheit des Geländes dürfte ein Sturz nicht sonderlich gefährlich enden, doch wer möchte schon über die picksige Raufasertapete einen Abgang riskieren?!? Ungeahnte Kräfte entweichen daher nicht nur einmal meinem Körper. Die Taktik des steten Weitersteigens und des Vertrauens in die Erstbegeher, dass sie ihre Kreation mit Kopf erschliessen, wird hier durchaus belohnt. Denn die Bolts stecken letzten Endes dann doch fast aussnahmslos so, dass eine Begehung zwar Engagement erfordert, aber nicht psycho ist.
Wenn du an einer genauen Routenbeschreibung interessiert bist, findest du auf Marcels Blog einen lesenswerten Eintrag: https://mdettling.blogspot.com/2022/09/rothorn-rote-fluh-bons-baisers-de.html
Filidor Extrem West (2010): Piola/Anker (1989), Bons Baisers de Sibérie, 7a+ (6c obl.), 220m/6SL
Kommentar schreiben