Eigentlich wäre mein Début an den Wenden vorgesehen gewesen, doch nachdem es am Vortag nur Grau in Grau, wolkenverhangen und die Wiesen noch platschnass gewesen sind, entschieden wir uns kurzerhand um. Ein anderes Projekt wartete nämlich noch in den voralpinen, aber nicht minder interessanten Gastlosen. Ground Zero, eine fordernde Sportkletterroute neueren Datums (2021) von den Erschliessern Vögeli/Klaus versprach nicht nur eine gute Alternative, sondern auch - im Nachhinein betrachtet - das grössere Unterfangen zu werden. Bei 400m Länge und homogenen Schwierigkeiten im Bereich 6c/7a (max 7b+, 6c obl.) eine Ansage, auch wenn die Absicherung sehr gut und durchdacht ist. Trotzdem heisst es Klettern um Meter zu machen und wie in grossen Wänden üblich steckt auch bei bester, sportklettermässiger Absicherung nicht jeden Meter ein Bolt. Es darf auch in dieser Route angenehm vom letzten Bolt weggestiegen werden und durchaus an mehreren Stellen mit dem Fels sachte umgegangen werden, was die Psyche zusätzlich strapazieren kann. Im Gesamtpaket ein tagesfüllendes Hammer-Teil mit kurzem Zustieg und der damit im Verhältnis gesehenen fetten Ausbeute an abwechslungsreichen, oftmals originellen Klettermetern, gespickt mit alpinen Elementen (Risse, brüchige Meter, Bandquergang, "Minimatterhorn",...) und etwas Nervenkitzel beim Abseilen, weil die oberen Abseiler nicht entlang der Route verlaufen und im Falle eines Seilverhängers man in der Klemme steckt.
Um 9:00Uhr erklimme ich die ersten, brüchigen Meter zum Stand der Toto Pepone, von wo die Ground Zero ihren fulminanten Auftakt nimmt. Es folgt eine wahnsinnig fordernde 7a+ Länge an nicht immer leicht zu lesenden Strukturen, Leisten sind hier Mangelware, wie in der ganzen Route. Die Felsstruktur gibt dem Kletterer nur vertikale Zangen, Seitgriffe und unförmige Strukturen zur Hand, wo es die 4 Gliedmassen in der richtigen Belastungsrichtung einzusortieren gilt. Dazu ist das Teil steil, ohne Chalkspuren und konstant anhaltend. Im oberen Teil warten dann noch Sinterblobs (geil!) und ein Abwerferfinale vor dem Stand auf Wiederholer. Michael meistert diese Länge souverän im onsight, wenn auch dabei ein paar Körner auf der Wegstrecke liegen blieben. Im Nachstieg kann ich diese Länge geniessen und gut auf den Füssen stehen, mit meinem Toprope-Flash bin ich überglücklich und der Auftakt in die Route kann als geglückt angesehen werden. Wir sind gut unterwegs, es läuft und das motiviert ungemein.
Dementsprechend progressiv übernehme ich die dritte Seillänge, nominell mit 7b+ angegeben ein ziemlicher Brocken auf dem Papier. In der Realität muss ich ziemlich schnell klein beigeben. Bereits die Wandkletterei vor dem Dach ist so diffizil, dass ich mir die Sequenzen anschauen muss. Unter dem Dach kapituliere ich schliesslich und fange an zu A0-len. Keine Chance, der Fels ist hier von einer brösmeligen Algenschicht überzogen, unübersichtlich und spätestens die Dachkante schaut auf den ersten Blick unüberwindbar aus. Einmal über die Dachkante gegriffen, löst sich der Ausstieg aus dem Dach besser als gedacht auf, dafür erfordert die nachfolgende, komplett glatte und reibungslose Platte 100% Vertrauen in die Schuhsohlen. Zusätzlich sieht einen der Kletterpartner nicht, was die Sache nicht besser macht. Mit viel Gemurkse erreiche ich also den unbequemen Stand, der vor der seichten Verschneidung noch auf der Platte das Ende von Seillänge 3 bedeutet. Die vierte Länge folgt den grossen Käselöchern nach links aus der Verschneidung heraus in kleingriffiges Wandkletterterrain. Tief bleiben wird belohnt.
Das scharfe Ende des Seils ist mir für die 5.Seillänge zugeteilt. Ein alpiner Riss, der sich zwar griffig, aber auch brüchig präsentiert mit der Crux zunächst von der Wand auf die Kante zu gelangen, welche das Risssystem begrenzt. Nicht ganz banal, ich bin froh einiges an alpiner Erfahrung für diese Seillänge mitzubringen. Vor allem, was die Felsqualität anbelangt. Dafür ist der folgende Stand sehr bequem und fotogen zugleich. Es folgt noch die letzte Länge auf das Minimatterhorn, welche eine ziemlich knackige Stelle aufweist. Michael onsightet einmal mehr souverän, ich habe im Nachstieg gefühlt deutlich mehr zu kämpfen und entgehe nur knapp einem Rutscher ins Seil. Gegendruckklettern ohne Tritte, mein Antistyle;-)
Nun heisst es abwägen. Die Zeit ist schon deutlich fortgeschritten und der nachfolgende Turm nochmals lang und mit 4 harten Seillängen mehr gespickt. Wir entschliessen uns zum Durchziehen und wenn nötig, um Zeit zu sparen, auch mal in die Exen zu greifen. Doch wie so oft ist die Motivation alles frei und im besten Stile (onsight) zu klettern letztendlich höher als der Zeitdruck suggeriert. Nur in der zweiten 7b+ Länge der Tour greifen wir beherzt mehrmalig ins Textil, wobei ich mir im Nachstieg richtig schwer damit tu. A0-en ist nicht mein Ding, mir fehlt die Kraft zum Blockieren und nicht nur einmal schreie ich in den Wind hinaus in der Hoffnung, dass er meine aufgeregten Worte wie "zieh ein" nach oben zu Michael transportiert. Meine Horrorvorstellung: im Nachstieg in das Schlappseil zu stürzen, irgendwo im Nirgendwo unter einer Dachkante zu hängen und mit einem grossen Fragezeichen in den Augen wie zum letzten Bolt zurückzukehren. Zum Glück kommt es nicht so weit und ich erreiche den Stand vor dem spektakulären und irgendwie noch witzigen Quergang in und um den Berg herum entlang eines Bands mit überdimensional grossen Blöcken. In einer klassischen Dolomitenroute gehörte diese Seillänge zur Tagesordnung, hier, in einer so schwierigen Sportkletterroute, eine ungewohnte Wegführung. I like :-)
Nun ist der Weg frei zum Gipfel, noch 2 Seillängen liegen vor uns, ich bin allerdings bereits ziemlich aufgebraucht. Klar physisch, aber auch mental. Nun gut, die folgende Länge übernimmt Michael, einmal mehr souverän im Onsight. Ich folge zwar ohne Sturz und Griff ins Textil, aber mir brennen die Nerven langsam durch. Diese Länge erinnert an den "Hot Chili"-Fels vom Rothorn, brutal scharf und wasserzerfressen, so dass jeder Finger schmerzhaft einsortiert werden will, was Zeit und Energie raubt. Dazu bilde ich mir ein, dass mein Seil reissen würde, käme es über eine Kante zum liegen im Falle eines Sturzes. Was einem nicht alles durch den Kopf geht, wenn die mentale und physische Stärke aufgebraucht ist. Ich wandere schön langsam in den roten Bereich und das bekommt auch mein Kletterpartner zu spüren. Nein, ich verstehe grad keinen Scherz mehr und nein, mein gewohntes Lächeln im Gesicht weicht einer angespannten, leeren oder auch schmerzverzerrten Grimasse. Ein etwas ungünstig für den Nachsteiger gesicherter Runout über eine Kante mit der Gefahr an der gegenüberliegenden Wand kräftig anzuklatschen, löscht mich dann völlig ab. Durchatmen, Augen schliessen, beruhigen, Konzentration und eine gangbare Lösung finden ist die einzige Devise.
Am Stand angekommen, möchte ich nur noch weiter. Ich zweifle zwar an meiner Kompetenz die letzte 45m Seillänge meistern zu können, doch mir bleibt letztlich nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorne anzutreten. Mit Wimmern und Jammern manövriere ich mich nach oben und freue mich gleichzeitig ob der fetten Blumentöpfe im steilen Gelände, die da so unerwartet aus der sonst eher kleingriffigen Wand auftauchen. Ein letztes Aufbäumen, mit viel Überwindung zum Weiterklettern ob des etwas weiteren Hakenabstands und meiner leeren Arme manage ich den einen Klipp, rette mich in flacheres Terrain zum Rasten. Doch dann schmeisst mich der Ausstieg in die gutmütige Platte doch noch ab. Meine Energiereserven stehen auf Minus 10 im dunkelroten Bereich. "Zu"! Mist. Hab ich die Seillänge doch noch vergeigt...Mit viel Seilreibung erreiche ich schliesslich ausgelaugt den letzten Bolt nach dem Gemüse und beziehe Stand. Der eigentliche Stand mit Wandbuch wäre grad 5m weiter ums Eck, ich beschliesse aber aufgrund der Reibung bereits hier die Seillänge zu beenden.
Ein Blick ins Wandbuch verrät, dass die bisherigen Begehungen der Route durchwegs positiv ausfielen und wohl jeder sein persönliches Erlebnis und Abenteuer erfahren durfte. Die einen mehr, die anderen weniger, je nach Kletterniveau. Für mich stellte diese Route eine neue Dimension da. Wenn ich mir überlege, dass ich im Klettergarten niemals so viele Seillängen in den geforderten Schwierigkeitsgraden gehen würde. Hinzu kommt noch der Fakt, dass die Route keine Begehungsspuren aufweist, keine Griffe weiss oder "tickmarked" sind und der Kletterstil wirklich fordernd ist. Nichts zum schnellen Abhaken. Kein Wunder also, dass mich dieser Tag in die dunkelrote Zone beförderte. Schön, wenn man Kletterpartner hat, die dies mit Gelassenheit und Ruhe aufnehmen. Danke Michael an dieser Stelle für deine Geduld, deine stets motivierenden Worte und das Vertrauen, das du mir entgegenbringst, solch "grosse" Herausforderungen meistern zu können.
Die Abseilfahrt gestaltete sich wider erwarten komplikationslos. Wir arbeiteten mit viel Umsicht und Vorausschau, so dass wir keinen Seilverhänger provozierten. Lediglich das Minimatterhorn und dessen Fixseil konnten wir mit unseren 50er Seilen nicht ohne weiteres erreichen. Die Sicherungslücke galt es mit etwas Improvisation an Blöcken (Bandschlingen) zu schliessen. Vom Minimatterhorn dann wieder zackig bis zum Boden retour, wo wir gegen 21:00 eintrafen, also nach gut 12 Stunden! Ein ausgiebiger Tag, der um 22:30Uhr erst zuhause endete. Leider ohne Pizza, die während des Abseilen mehrfach in unseren Köpfen rumgeisterte...
Gastlosen, Gross Grenadier: Ground Zero. Adrian Vögeli/Andy Klaus (2021). 400m, 12 Seillängen, 7b+ (6c obl.). Topo Version3: https://drive.google.com/file/d/15F2D7PX3a6OXqDORDP4ftdY0wWwH3kqY/view
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