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Titlis Nord: Duracell

Allein die Beschreibung im Topo unter Abstieg lässt aufhorchen: "Mit WINGSUIT oder 5x abseilen". Mit Wingsuit? Echt jetzt? Geiler Scheiss;-)

Tönt nach einem kleinen Abenteuer, ich möchte diesen Absprung mit eigenen Augen sehen und zögere keine Sekunde, als Michael mich fragt, ob ich Interesse an genau dieser Route hätte. Natürlich. Steil, genau unser Ding.

 

Der Tag X, an dem Duracell auf unserem Mehrseillängensommerfestmenü (sorry für das sperrig lange Wort;-)) steht, rückt sogleich näher. Eine Schönwetterphase mit Hitzetagen ohne Gewitterrisiko verwandelt die schattige Wand am Titlis von einer dunkelgraublauen Mauer in ein hellgraue, mit weissen Streifen durchsetzte Felsbastion, die an Ausgesetztheit ihres gleichen sucht. Trocken und imposant leuchtet sie bereits vom Tal über den grünen Wiesen. Ein 1000Hm Aufstieg will zunächst bewältigt werden, in der prallen Sonne versteht sich, bevor der dunkle Schatten unsere überhitzten Körper für die nächsten Stunden runterkühlen wird. Die Kühlphase dauert allerdings nur wenige Stunden, bei einer Nullgradgrenze auf 5100m fängt man selbst in der Titlis Nordwand zu schwitzen an. Spätestens ab der zweiten Seillänge, denn ab hier geht es los mit der akrobatischen Turnerei auf dem Kalkgemäuer.

 

Während sich der Fels in der ersten Länge noch eher geschlossen plattig mit vielen Löchern präsentiert, wo bis auf eine Stelle schön flüssiges Höhersteigen gefordert wird, wird in der zweiten Länge auch der Bizeps und insbesondere die Routenfindungsskills und das Felslesevermögen gefordert. Wer die Kletterpassagen richtig antizipiert, wird sich über die luftige Kletterei im Grad 6b+ freuen. Der Fels ist wunderbar und die Bewegungen top, die Hakenabstände geben allerdings den Ton an. Das ändert sich auch nicht in der folgenden Monsterlänge. Wasserzerfressener Fels auf der ganzen Seillänge, die sich bis zum Ende gewaltig aufsteilt. Erst beim Nachziehen des Rucksacks merkt man dann so richtig, wie sehr diese Länge bereits überhängt! Beim blossen nach oben sehen und sichern, fällt einem dieser Umstand gar nicht so sehr auf. Die aufgeblasenen Unterärmchen bestätigen allerdings den Rucksacknachzieheffekt.

Fast schon sehe ich unser "Aus" in dieser Route, die doch so vielversprechend begonnen hat. Eine so ganz und gar nicht passende Stelle - in der ansonsten sehr athletischen Kletterei - will mir nicht gelingen. Ich sehe keine Chance auf ein Durchkommen, selbst mit allen Mitteln und Wassern gewaschen, muss ich immer wieder aufs Neue kapitulieren. Zu weit, zu klein, zu schmerzhaft, zu riskant,...die Liste wird immer länger und Kräfte und Moral schwinden. A0/A1 ist hier nichts zu machen. Klettern oder aufgeben. Ich muss mich wohl oder übel für zweites entscheiden und übergebe Michael den Lead, den er souverän mit seinem Grössenvorteil, einer gewissen Schmerztoleranz und etwas Risiko, meistert. Mein Held. Wir bleiben also im Spiel. Die tollen Längen, warum wir eigentlich hier sind, kommen ja erst! Akkus laden heisst es in der Höhle, welche rechts betreten und am linken Rand verlassen wird. Eine willkommene Pause vor dem Grande Finale, das hier seinen Anfang nimmt. 

 

"Und hopp!". Ich zögere - und tropfe wenige Sekunden später bereits beim zweiten Bolt ab. Zögern gibts hier nicht. Entschlossenheit wird belohnt. Beim nächsten Anlauf weiss ich was zu tun ist und gebe Vollgas, danach folgen Henkel, die grosstöpfiger nicht sein könnten. Aber auch scharf und rauh sind. Das kostet Ganzhandhaut, nicht nur die Fingerkuppen. Atmen, prusten, schütteln, das Spiel beginnt von vorne. Zug um Zug. Durchgeschwitzt (warum zum Teufel habe ich ausgerechnet heute mein wärmster Woll-Tshirt an?!?) hänge ich den Stand ein. Geile Länge! In diesem Ambiente! Einfach unglaublich! Alleine dafür hat sich der ganze Aufwand schon gelohnt. Ich bin völlig aus dem Häuschen und kann es kaum erwarten Michael in der nächsten Länge zu sehen, die noch eins drauf schlägt in Bezug auf Schwierigkeit und Anforderungen, Steilheit und Felsqualität bleiben dieselbe. 

 

Die Tagline hängt monstermässig weit in das strahlende Blau hinaus, Express und Chalkbag baumeln munter in der Luft. Von Anfang an muss in der 7b Länge gekämpft werden, da wird nichts geschenkt und es bedarf etwas Glück die richtige Griffabfolge auf Anhieb zu erwischen. Michael entscheidet sich bei der 50/50 Chance für einen Fehlgriff und sammelt Flugmeilen. Spektakulärer Abgang, mir sackt das Herz in die Hose als es auch mich als Sicherer in die Luft zieht. Noch tiefer als tief rutscht das Herz hinunter, als Michael den Rucksack beginnt nachzuziehen und ich ihn an der Tagline befestige. Das Teil schwebt vermutlich 8-10m hinter mir entfernt durch die Luft. An Exposition und Steilheit ist diese Seillänge kaum zu schlagen. Und so fühle ich mich beim Nachsteigen etwas unwohl, der Gedanke, frei in der Luft zu pendeln und nicht mehr an den Fels zu kommen, veranlasst mich, wohlüberlebt jeden Bolt auszuklippen. Und dazwischen Vollgas zu geben. Übermenschliche Kräfte entwickeln sich in solchen Szenarien in meinem Kopf und Körper, so dass ich immer wieder überrascht über mich selbst bin, was ich alles so festhalten und klettern kann, wenn das Adrenalin nur hoch genug ist. Topropeflash, meine Stärke. Leider nichts, auf das man stolz sein kann;-)

 

Durchatmen sollte man in der folgenden 6b Länge. Mir gelingt dies aber nicht. Ob es am Pump der vorangegangen beiden Seillängen liegt oder ich schlichtweg jeglichen Kopfschmalz bereits verbuttert habe? Jedenfalls muss ich beim Start in die Schlinge greifen, ärgerlich. Mittlerweile hat uns auch die Sonne erreicht und steigert die Schweissperlenproduktion ins Unermessliche. Ihr lacht? Dann möchte ich euch gerne an diesem kuriosen Bild teilhaben lassen, dass sich tatsächlich so abgespielt hat: wir hängen etwas beengt am Stand, während Michael den Kopf senkt, bemerke ich eine klare Flüssigkeit tropfen. Regen? Nein, der Himmel ist klar und auch der Fels oberhalb sieht trocken aus. Die Lösung des Rätsels? Eine Grossansammlung Schweissperlen entlud sich beim Kopfsenken aus dem Helm heraus...

 

Dem einen rinnt es heiss von der Stirn, dem anderen platzt der Kopf. Ich überhitze am Titlis, auf 2300m nordseitig! Die Füsse massiv geschwollen, die Haut hängt in Fetzen von den Fingern. Auch der fleissige Griff ins Chalk kann der Situation kaum Abhilfe schaffen. Umso erstaunlicher und bemerkenswerter die Leistung Michaels, der die letzte schwierige Länge (7a+) im Onsight begehen kann. Während ich beim Sichern mich mühsam in den Spalt am Stand zwänge um noch die letzten Reste Schatten zu erhaschen, turnt er gekonnt und mit Präzision die technische Seillänge hinauf. Im Nachstieg bin ich mehr am hadern und fluchen als am klettern, der Kampf gegen die Sonne fordert Tribut. Es hängt bestimmt noch eine Schicht Fingerhaut auf den spitzen, picksigen Griffen und schwarzer Sohlenabrieb. Irgendwann erreiche auch ich schweissgebadet den Stand und bin erleichtert "nur" noch eine 6a im Vorstieg meistern zu müssen. Für mehr wäre ich wirklich nicht mehr fähig gewesen. Und auch diese 6a läuft alles andere als flowig. Ein alpiner Ausstieg halt, Kaminklettern und Steine hüten. Aber ich will den Absprung sehen und wuchte mich auch diese Abschlussseillänge hinauf. Jetzt nur noch Flügel ausbreiten und ...zu Tal schweben.

 

Auf uns wartet hingegen eine Abseilfahrt, die nochmals vollste Konzentration und ein sorgfältiges Arbeiten erfordert: stark überhängendes Abseilen mit Anpendeln von Ständen und Einhängen von Bohrhaken ohne Kompromisse garantiert einen hohen Adrenalinpegel. Beherztes Wegspringen oberhalb der Dachkante ins Leere, ja nicht den gesetzten Impuls versacken lassen, komme was wolle. Sonst heisst es hinaufprusiken, die vollen 50m Seil, was angesichts der sich senkenden Sonne in unserem Zeitbudget nicht mehr dringelegen ist. Die Seilenden peitschen hinunter beim Abziehen und baumeln irgendwo da unten in der Tiefe, weit weg vom Fels. Die Anspannung löst sich erst, als wir unsere Rucksäcke beim Depot am Anfang des Schuttbandes erreichen. Und mit ihr kehrt auch die Müdigkeit in die Glieder zurück. Ein langer Tag liegt hinter uns, die atemberaubende Abendstimmung mit Rosatönen und Verblauungen am Horizont lässt ein letztes Mal das ausgelaugte Gefühl vergessen, statt dessen macht sich Zufriedenheit breit und erfüllt den Geist mit einem breiten Grinsen beim Blick zurück auf die noch in letzten Fetzen sonnenbeschienene Wand. 

 

Irgendwann ist dann auch das letzte Licht verschwunden und wir torkeln mit der Dunkelheit ab der Alp den steilen Wanderweg hinab. Im Kegel der Stirnlampen, welche nur noch einen kleinen Hauch von Umgebung zeigen, stolpern wir wortkarg bergab. Jeder in seinem eigenen "Überlebensmodus", so wie ich es gerne nenne, wenn man nur noch am Auto ankommen möchte und einfach genug hat von allem. Wenn die Grundbedürfnisse befriedigt gehören und das "Leiden" ein Ende haben soll. Runter mit der fetten Sau am Rücken. Ein grosser Schluck aus der im Auto deponierten Flasche Süssgetränk. Raus aus den Schuhen und frische Kleidung. Kleine Taten, grosse Veränderung. Es ist 22:00Uhr, volle 12 Stunden nach unserem Aufbruch...

 

Titlis Nord. Duracell. 7b (6c obl.), 9 SL, 240m. Markus Wicky, Robi Rudolf, Toboas Dollinger, Beat Krummenacher, Mika von Arx (2015/16).

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschafterin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

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Autorin Trailrunning Guidebook

 

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