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Titlis Nord: Süpervitamin

Das Süpervitamin, ob von Künstler Semih Yavsaner alias "Müslüm" besungen oder in Felsform an der Titlis Nordwand inhaliert, es ist was dran am schrillen Süpervitamin mit seiner berauschenden Wirkung. Diese 7 Seillängenroute vom bewährten Erstbegeherduo Reto Ruhstaller und Bernd Rathmayr zieht vom ersten Meter an durch erstklassigen Titlis Fels. Jeder Quadratzentimeter ist mit unglaublichen "Chickenhead"- Formationen bestückt. Man wähnt sich im siebten Kletterhimmel! Ungläubig ob der irrwitzigen Griffformen hallt unsere Begeisterung durch die morgendliche Frische. Dabei gilt es konzentriert und überlegt zu klettern, den Flow durch die weiteren Hakenabstände nicht abreissen zu lassen. Wer sich mit dem Gedanken anfreunden kann, dass diese dunklen Knobs eigentlich eisenfest vom grauen Kalk umschlossen sind, wird mit der Zeit seine Angespanntheit loslassen können. Genuss und Freude pur werden sich breit machen. Das Süpervitamin beginnt seine Wirkung zu entfalten...

 

Dabei waren wir erst vor 14 Tagen hier oben auf der Schattseite Engelbergs. Viel Schweiss liessen wir beim 1000Hm Aufstieg über die steilen Wiesen liegen, denn die Nullgradgrenze bewegte sich bei 5200m! Wie schnell man die Strapazen verdrängt, eröffnet sich nur ein Hauch von einer Möglichkeit, dass man ein solches Erlebnis, wie bei der Begehung der Duracell, noch einmal durchleben könnte, verblüfft mich immer wieder. Die Tage in der Titlis Nord sind gezählt, eine weitere Chance hier oben Hand anlegen zu dürfen, wollten wir also unbedingt nutzen. Letztes Mal bewegten sich zwei Seilschaften in der Süpervitamin und wir würden auch heute nicht die ersten an der Wand sein, da es für uns logistisch mit der weiten Anreise schlichtweg nicht machbar ist früher am Parkplatz der Fürenalpbahn zu sein. Doch das Glück spielte uns in die Taschen, weit und breit keine Anwärter auszumachen. Lediglich eine Seilschaft bewegte sich schon recht weit oben im Seepferdli. Also freie Fahrt voraus!

 

Wie in den Routen am Titlis üblich, durchbricht meist die vierte Seillänge eine Wandzone mit etwas minderer Felsqualität. Auch die Süpervitamin muss diese Passage überwinden, bevor das Sahnehäubchen - die fantastisch luftig steil empor ziehende, mit gelb/grauen Streifen gespickte Wand - zum krönenden Finale leitet. In der Duracell musste ich in der vierten Länge einen Rückzug antreten und auch hier in der Süpervitamin bleibt mir nichts anderes, als in die Trickkiste zu greifen. Ein brüchiger Bauch will von einem Band weg kräftig erklettert werden. Die Crux: zum "Startgriff" zu gelangen. Im Nachstieg zieht es mich zudem aus der Wand, da das Seil, um beim Wegklettern nicht aufs Podest zu Stürzen, straff gespannt ist. Ein verzweifelter Deadpointer zum Startgriff, ich sitze im Seil. Beim zweiten Anlauf dann mogle ich mich zum Startgriff mit Hilfe der Express hinauf. Schade um das Grössenproblem an dieser Stelle, denn alle anderen Längen und Kletterpassagen meisterten wir beide überschlagend im besten aller Stile, wobei Michael am scharfen Seilende in der nominellen Schlüsselseillänge (7b) eingebunden war. Zu erwähnen sei auch noch, dass entgegen älterer Blogberichte, diese vierte Seillänge mittlerweile schon recht gut ausgeputzt ist und gar nicht mehr so übel zu klettern ist, eine gute Fusstechnik und Leistenstrom vorausgesetzt. Auch wenn so manches Schüppchen noch fragil wirkt, mit etwas Umsicht macht diese Seillänge sogar Freude.

 

Seillänge 5 und 6. Ein Meisterwerk der Natur und natürlich der Entdecker, die mit ihrer Spürnase für geile Klettermeter erst mal diese Linie finden mussten. Eine Henkelparade in rauhem Fels und dermassen überhängend, dass die Steilheit so richtig zur Geltung kommt, wird der Rucksack nachgezogen. Der pendelt nämlich jedes Mal mit einem Satz ins Leere hinaus, schätzungsweise 8-12m, dass ich nicht recht wusste, ob ich mich nun freuen oder fürchten sollte. Prinzipiell liebe ich athletische Klettermeter, wo man wie ein Äffchen von Griff zu Griff turnt. Doch mit so viel Luft unterm Hintern und den teilweise doch recht sportlichen Hakenabständen, schoss mir mehr Adrenalin als Glückshormone in die Glieder. Die Vorstellung, im luftleeren Raum zu baumeln, trieb mich an, besser nicht loszulassen. Und so erlebten wir ein Pumpfest der Unterarme, befeuert vom Willen durchzusteigen und von den lautstarken Anfeuerungszurufen des Seilpartners. Nach der steilen 7a Länge im Nachstieg, die noch forderndere 7b Länge im Vorstieg dranzuhängen, rief auch bei Ausdauerviech Michael und seinen noch krasseren Unterarmen Alarmstufe Rot hervor. Erwähnt sei, dass die Schlüsselstelle obligatorisch ist und genau die richtige Portion Süpervitamin verlangt, um sie durchzuziehen. Ein Sturz würde selbstverständlich ohne Konsequenzen bleiben, doch es braucht an dieser Stelle wirklich eine gute Dosis Entschlossenheit um den "freien Fall" (die Füsse stehen sicherlich 3m über dem letzten Bolt und gut 2m links davon;-)) abzuwenden.

 

Im Nachstieg kann ich dieses Meisterwerk an Seillänge und den aufkommenden Pump in den Armen richtig geniessen! Ich erfreue mich an jedem zurückgelegten Meter, an jeder eleganten Kletterbewegung, an jedem Griff, der sich mir aufdrängt. Nein, diese Seillänge ist das Beste, was mir je in einer Mehrseillänge untergekommen ist. Der Begriff der Superlative darf man hier getrost verwenden. Alle Mühen und Schweisstropfen sind es wert um hier Hand anlegen zu dürfen. Dass wir beide dann noch diesen Diamanten in einem Team Onsight durchsteigen, erfüllt mich umso mehr mit Stolz und einer tiefen Genugtuung. Es ist ein krönender Abschluss unseres phänomenalen Klettermarathons in diesem Sommer, immer auf der Suche nach steilen Klettermetern und herausragenden Seillängen.

 

Der Vollständigkeit halber noch ein paar Worte zur letzten Seillänge, die alles andere als trivial ist. Die Crux beim Bauch lässt sich bereits vom Stand weg erahnen, der Weg dorthin entpuppt sich allerdings als Knacknuss und auch der Ausstieg, wo links eine gefädelte Sanduhr zu erkennen ist, könnte sich im ungünstigsten Fall als Abwerfer offenbaren. Also Augen auf und vor allem: Vollgas voraus. Die Tour ist wirklich erst beim Stand zu Ende. Um ehrlich zu sein, auch dort nicht. Denn das Abseilen liefert eine weitere Überdosis Süpervitamin. Mit viel Pendeln und Einhängen der Express lässt sich der Nervenkitzel zwar reduzieren, aber ausschliessen wohl nur für völlig abgebrühte Alpinisten. Ich erinnere mich haargenau an einen Moment, wo ich zu geizig mit Einhängen der Expressen war und den übernächsten Bolt anvisierte. Meine Strategie entpuppte sich jedoch als kühnes Unterfangen, fast wäre ich tatsächlich nicht mehr zur Wand gekommen. Nur mit einem langwierigen Schaukelprozess und einem Überkopf-nach-unten-ausstreck-Manöver klippte ich mit etwas Glück den Bolt. Mir entwichen bei diesem Akt des "Überlebenskampfes" nicht nur kleine Aufschreie des Entsetzens und der aufkommenden Panik. Ich sah mich zwischenzeitlich definitiv schon wieder am hochprusiken...

 

Der Rückweg zum Auto, ein Pflichtakt. Doch diesmal noch im Hellen und zu einer christlichen Zeit. An diesem Tag lief einfach alles, er wird mir noch lange positiv in Erinnerung bleiben. Vom Süpervitamin beflügelt träumen wir bereits völlig übermüdet von neuen Abenteuern in der Titlis Nordwand.

 

 

Titlis Nord, Süpervitamin: 7b (6c+ obl.), 7 SL, Ruhstaller/Rathmayer (2012).

 

 

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Patricia Neuhauser

 

Sportwissenschafterin, MSc

Präsidentin Verein trail-maniacs

Online-Autorin SAC Tourenportal

Autorin Trailrunning Guidebook

 

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